Manuskripte 2023

Kirchentag in Nürnberg

In dieser Datenbank haben Sie die Möglichkeit, Redebeiträge vom Kirchentag in Nürnberg 2023 einzusehen.

Diese Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; wir veröffentlichen alles, was uns die Referierenden zur Verfügung stellen. Die Dokumentationsrechte für ganze Texte liegen bei den Urheber:innen. Bitte beachten Sie die jeweiligen Sperrfristen.

 

Sperrfrist
Fr, 09. Juni 2023, 09.30 Uhr

Fr
09.30–10.30
Dolmetschung ins Englische
Bibelarbeiten am Freitag | Bibelarbeit
Bibelarbeit | Thomas de Maizière
Was jetzt am Tage ist | 1 Mose 50,15-21
Dr. Thomas de Maizière, Präsident 38. Deutscher Ev. Kirchentag (DEKT), Dresden

I. Begrüßung 

Guten Morgen und herzlich Willkommen hier in der Messehalle 6!

Dritter Tag beim Kirchentag. 

Dritter Tag beim Kirchentag bedeutet auch: Zeit für den dritten Bibeltext zur Kirchentagslosung.

„Jetzt ist die Zeit“ aus dem Markusevangelium – die Losung selbst war Thema der Eröffnungsgottesdienste am Mittwoch.

Gestern am Donnerstag dann die Hochzeit zu Kanaa, als Jesus sagte: „Meine Zeit ist noch nicht gekommen“ (Joh. 2).

Heute am Freitag ein Sprung ins Alte Testament. „Was jetzt am Tage ist“ ist uns heute als Überschrift mitgegeben. Der dazugehörende Text ist das Ende der Josefsgeschichte im 1. Buch Mose im 50. Kapitel. 

 

II. Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern 

Ich wette, fast alle kennen diese Geschichte von Joseph, jedenfalls so ungefähr:

  • dem Träumer, dem Schönen, dem Vatersöhnchen, 
  • dem Verkauften, dem Versklavten, dem BeinaheVerführten, 
  • dem Verratenen, dem Gefangenen, dem Vergessenen, 
  • dem DochnochErinnerten, dem Oberverwalter, dem immerwieder-Erfolgsmann, 
  • dem Unerkannten, dem Prüfer, dem Bruder 
  • und dem Versöhner. 

Dem Versöhner? 

So haben wir es im Kindergottesdienst gelernt: Joseph vergibt seinen Brüdern. 

Aber: War das wirklich so? Darauf komme ich natürlich.

 

Jetzt aber erst einmal der Text, damit wir gemeinsam wissen, wovon wir reden.

Ich lese nach der Luther-Übersetzung (1. Mo, 50, 15-21): 

15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. 

16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 

17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte. 

18 Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. 

19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? 

20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. 

21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

 

Ich habe schon öfter Bibelarbeiten gehalten, auf Kirchentagen und Katholikentagen. Bisher hatte ich meistens schwierige Texte, mit denen ich mich rumgeschlagen habe, und die ich dann letztlich gerade deswegen so spannend fand.

Dieses Mal habe ich den Text aufgeschlagen und gedacht: na endlich: ein schöner einfacher Text. Alles gut. Es geht um Vergebung und Versöhnung. Jetzt ist die Zeit für Happy End. Da bin ich schnell fertig.

 

Aber stimmt das? Ist es wirklich so einfach mit diesem Text?

Sie ahnen es schon: natürlich nicht.

 

Verstehen können wir diesen Text aber nur, wenn wir die Vorgeschichte kennen.

Ich will Sie Ihnen erzählen: 

Joseph gelingt alles. Er ist schlau, gutaussehend, talentiert. 

Und er zeigt seine Überlegenheit, ja Arroganz, den Brüdern. Er erzählt ihnen von seinen Träumen: Die Erntegarben der Brüder und Eltern verneigen sich vor ihm, dem zweitjüngsten Sohn. Ebenso Sonne, Mond und Sterne. 

Nicht nur aus der Perspektive der Brüder ist das an Überheblichkeit kaum zu überbieten. 

Der Vater rügt ihn wegen dieser Überheblichkeit – und merkt doch auf bei den Träumen seines Sohnes. 

Er ist der Lieblingssohn seines Vaters. Der Vater schenkt Joseph, nur ihm, ein buntes, überall erkennbares, extravagantes Kleid.

Man kann verstehen, dass die Brüder sauer und eifersüchtig sind. Nicht nur das: Sie beschließen sogar, ihn, ihren eigenen Bruder zu töten. 

Das kennen wir aus dem Alten Testament – mit Kain und Abel – mit einem furchtbaren Ende.

Nur dem Einspruch des ältesten Bruders ist es zu verdanken, dass aus den Mordplänen nichts wird. Aber viel harmloser ist der Racheplan nicht:  Josef wird erst in einen trockenen Brunnen geworfen und dann von den Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft. 

 

Aber er fällt - natürlich, der Glückspilz - wieder auf die Füße:

Am Hof des Pharaos arbeitet er sich nach oben und fällt durch seine Klugheit auf. 

 

Doch das Glück währt nicht lang. Die Frau des Pharaos versucht ihn zu verführen und als das nicht klappt, verleumdet die Zurückgewiesene Josef. Er landet daraufhin im Gefängnis. 

Kleine Zwischenbemerkung: erstaunlich, was uns schon damals berichtet wird.

Im Gefängnis deutet Josef die Träume seiner Mitgefangenen, die kurze Zeit später wahr werden. Der eine stirbt, der andere wird befördert.

Joseph aber wird zum Vergessenen und sitzt weiter im Gefängnis – bis der Pharao träumt und man sich Josefs Talent zum Träume deuten erinnert. Zum dritten Mal spielen Träume eine Rolle in Josefs Leben und unserer Geschichte.

Der Pharao lässt ihn holen und Josef deutet nun dessen Träume. Er rät dem Pharao, in den nächsten sieben fetten Jahren gut zu wirtschaften und klugerweise Vorräte anzulegen. Denn nach den sieben fetten Jahren würden sieben magere Jahre kommen. Hungersnot.

Josef wird zum zweiten Mann im Staat, zum Oberverwalter, zum Erfolgsmann und genießt das Vertrauen wirklich aller. Und das formal als Sklave.

Die Hungersnot in der ganzen Region treibt die Brüder Josefs nach Ägypten. Sie werden bei Hofe vorstellig und treffen auf Josef.

Sie erkennen ihn nicht, aber Josef sieht auf den ersten Blick, wen er da vor sich hat. Er stellt seine Brüder auf harte Proben, um zu sehen, ob sie nach all den Jahren immer noch einen von ihnen zurücklassen und dem Tod preisgeben würden. Sie bestehen die Prüfungen. Und sie holen den altgewordenen und vor Kummer um seinen Lieblingssohn gebeugten Vater nach Ägypten. Die ganze Familie kommt. Joseph gibt sich zu erkennen, er sorgt für das Überleben der von Hunger bedrohten Großfamilie. Sie lassen sich in Ägypten nieder – mit dem Wohlwollen des Pharaos. 

Schließlich stirbt der Vater – glücklich, am Ende seines Lebens den totgeglaubten Sohn noch in die Arme geschlossen zu haben. 

Josefs Brüder aber packt die Angst, denn sie fürchten, Josef könnte sich nun, da der Vater tot ist, an ihnen für ihre jahrelang zurückliegenden Verbrechen rächen.  

Kein Wunder.

Und dann kommt unser Text, den ich zu Beginn schon gelesen habe.

Ich lese ihn noch einmal. 

15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. 

16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 

17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte. 

18 Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. 

19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? 

20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. 

21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

 

 

III. Drei Eindrücke 

Liebe Schwestern und Brüder,

drei erste Eindrücke und Fragen drängen sich mir auf: 

 

1.

Josef weint. Aber warum? Das steht da nicht. 

Ist er wütend, dass die Brüder dem toten Vater die Bitte um Vergebung in den Mund legen, die der Vater ihm gegenüber aber gar nicht geäußert hat, als er noch lebte?

Oder überwältigt ihn die Wut und die Erinnerung an die vergangene Ungerechtigkeit, die ihn beinahe das Leben gekostet hat?

Oder bewegt ihn die Veränderung seiner Brüder? Sind es also gar Tränen der Rührung?

 

 

2.

Mir ist aufgefallen: Im Text steht gar nicht eindeutig, dass Josef seinen Brüdern vergibt. 

Er rächt sich zwar nicht an ihnen – jetzt wo der Vater tot ist. Er kümmert sich sogar um sie. Soweit so gut. 

Aber Vergebung? Das steht da erstaunlicherweise gar nicht. Und trotzdem sagen wir das so landläufig. 

Josef sagt im Text: „Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist.“

Was soll das bedeuten? Schiebt Joseph die Vergebungsbitte ab, um nicht selbst vergeben zu müssen? Stielt er sich aus der Verantwortung? Schiebt er Gott vor? Was denkt er denn selbst?

Oder sagt er damit, dass seine Vergebung allein nicht ausreicht, sondern die Brüder das schon auch noch mit dem Gott der Väter ausmachen müssen?

 

3.

Und kann die ganze Moral der Geschichte sein: Gott schreibt auf krummen Linien grade. Deshalb gilt: Vergeben und Vergessen? Was früher war, spielt keine Rolle, solange es gut ausgegangen ist? Der Mantel der Nächstenliebe gewissermaßen als Mantel des Vergessens? Kann es das sein?

 

So ganz einfach ist der Text also doch nicht. 

Aber die Bibelarbeit ist ja auch noch nicht zu Ende…

 

Und deshalb stelle ich mir und Ihnen die Frage:

Was sollen all diese Unklarheiten? Was machen sie uns klar?

 

IV. Zwei Hinweise 

Ich möchte etwas ausholen, um durch diese erstaunlichen Unklarheiten sozusagen hinter die Geschichte schauen zu können:

 

Ein erster Hinweis

Wir alle wissen heutzutage, was eine gute Geschichte ausmacht: 

Ein Plot voller Spannung, sich steigerndes Drama, ein Cliffhanger an der richtigen Stelle, Eintauchen in die Gedanken und Gefühle der Figuren, mitfiebern können und der Eindruck, selbst Teil der Geschichte geworden zu sein. Ein Film, ein Theaterstück, ein Roman, eine Erzählung, klug komponiert, nicht gleich durchsichtig. Und wenn es richtig gut war: ein Kunstwerk, das einen verändert hat, in Bewegung gebracht hat, an das man sich gern und lange erinnert. 

Solch eine Geschichte ist die Josefsgeschichte. Das Alte Testament ist überhaupt voll von wunderbaren Geschichten. Ich liebe das sehr.

 

 

Wir erwarten das natürlich von guten Geschichten. Zu ihrer Zeit – vor mind. 2.700 Jahren und mehr - war so etwas jedoch etwas Neues, Unerhörtes, ein Kleinod der Erzähl- und Dichtkunst und ohne Vorbild. Das hat mal ein Theologe gesagt, der unendlich viel über das Alte Testament und seine Entstehungsgeschichte geforscht hat. 

Für uns selbstverständlich, für die Hörer und Leser damals eine Offenbarung. Die Geschichte schildert nüchtern, was passiert und baut dabei Spannung auf. Sie umfasst nicht nur eine Episode von 20 Versen, sondern einen ganzen Lebensweg in 392 Versen. Es ist am Anfang nicht sowieso schon klar, wie es ausgeht. Sie erzählt von den Gefühlen der Brüder, des Vaters, von Joseph, der im Verborgenen weint, der vor Bewegung nicht sprechen kann, der die Brüder trotzdem nicht ungeprüft lässt. Die Menschen und ihr Ergehen und ihre Veränderung stehen im Mittelpunkt.

Gott jedoch hat in dieser Geschichte – anders als in den vielen anderen Geschichten im Alten Testament - erstmal keinen großen Auftritt. Er spricht nicht, es donnert nicht, kein Prophet teilt irgendetwas mit, Engel kommen schon gar nicht vor. Diese Erzählung ist ihrer ganzen Art nach neu. Und großartig.

 

Dann ein zweiter Hinweis: 

Kennen Sie die Redewendung: Der Mensch denkt und Gott lenkt? Manche sagen auch zynisch: Der Mensch denkt und Gott lacht. 

Jedenfalls: Dieses Sprichwort hat seinen Ursprung im Buch der Sprüche in der Bibel. Dort heißt es: „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt“ (Spr. 16,9). Klingt doch ein bisschen wie: „Ihr gedachtet, es böse mit mir zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen“ aus unserem Bibeltext. 

Das Buch der Sprüche gehört zur sogenannten Weisheitsliteratur der Bibel. Die Josefsgeschichte gehört nicht direkt dazu, aber sie ist wie eine Illustration dessen, was sich die biblischen Weisheitslehrer als Bildungsideal auf die Fahnen geschrieben haben, nämlich: Gottesfurcht ist aller Weisheit Anfang. 

In den Texten der Weisheitslehrer ist der Weise auf den ersten Blick zu erkennen: Er ist schön, er ist beliebt, ihm gelingt alles – weil Gott mit ihm ist, er weiß sich vor Verführung zu hüten. Seine Ausbildung zielt darauf, den König bei Hofe beraten zu können. Deshalb weiß er seine Worte zur rechten Zeit auch wohl zu setzen und lernt die Kunst der politischen Rede. Vor allem weiß er, zur rechten Zeit zu reden und zur rechten Zeit zu schweigen. 

Und alles das führt uns auch die Josefsgeschichte vor Augen. Joseph ist schön, Josef gelingt alles. Über ihn sagt der Erzähler, dass Gott mit ihm war. Josef lässt sich von Pharaos Frau nicht aufs Glatteis verführen. Josef lernt, wann es besser ist zu reden und wann er schweigen sollte und Josef berät den Pharao mit Klugheit und Weitsicht und verhindert so eine Hungersnot in Ägypten. 

Wir können Josef dabei zuschauen, wie er sich im Laufe seines Lebens vom überheblichen Lieblingssohn zum weisen Verwalter eines ganzen Landes wandelt.  

Weisheit wird uns so dargestellt als die Kunst der klugen Lebensführung – in Höhen und Tiefen. 

Weise Lebensführung dient dem Leben.  Sie lernt man allmählich – oft nicht gleich. 

 

Sie kennt Abgründe und das kann stählen. 

Aus Schönheit, Klugheit und Charisma soll Verantwortung erwachsen, nicht Hedonismus und Selbstliebe. 

Aber Weisheit rechnet mit Gott, auch wenn die Geschichte in 392 Versen Gott nur 5 x erwähnt.  

 

 

V. „Eine Minute Zeit für…“ 

Liebe Schwestern und Brüder,

kluges Reden und Tun beginnt nicht selten mit dem Schweigen.

Eine Minute schenken wir uns auch in dieser Bibelarbeit. Eine Minute zur freien Verfügung. Sie kennen das schon. 

Ganze sechzig Sekunden einfach nur Sein – eine Minute Zeit – nur für dich, für mich, für alle … 

Eine Minute, die Zeit zu spüren. Eine Minute Auszeit. Eine Minute Pause. Eine Minute Ich. 

Jetzt ist die(se) Zeit:

 

VI. „Um zu tun, was jetzt am Tage ist“ 

Ich hatte aufgehört bei dem Gedanken:

Weisheit ist die Kunst der klugen Lebensführung. 

Weise Lebensführung dient dem Leben und sie rechnet mit Gott.

 

Das erzählt uns die Geschichte, nicht theoretisch, nicht mit KalenderSprüchen, sondern als Erzählung zum Mitfiebern und Hineinfühlen.

 

Was hat es nun vor diesem Hintergrund auf sich mit dem Textteil, der da sagt: „was jetzt am Tage ist“? 

 

Vier Entdeckungen habe ich dazu im Text gemacht:

 

1. Von der Unbestimmtheit

Hat der Vater nun vor dem Tod befohlen, Josef möge seinen Brüdern vergeben oder hat er nicht? 

Die Erzählung verrät es uns nicht. Es bleibt im Vagen, unbestimmt. 

Ist das nicht ein seltsamer Umgang mit Wahrhaftigkeit und Moral?  

Es ist regelrecht opportunistisch. Oder listig von den Brüdern. 

Die Täter von früher berufen sich auf eine höhere Instanz, um mit dem Opfer zu verhandeln, das jetzt mächtiger ist als sie. 

Darf man Tätern sowas durchgehen lassen? Eine spannende Frage, der ich hier aber nicht weiter nachgehen will. Auch die Geschichte geht dem nicht nach.

Wie Josef das empfunden hat, wissen wir nicht. Er weinte. Mehr steht da nicht. Und wir fühlen, dass das irgendwie ambivalent ist. 

Schon wieder unbestimmt.

 

Was wir wissen: Josef fragt nicht nach und löst die Unbestimmtheit nicht auf.  Und die Berufung auf den Vater war offenbar erfolgreich. Denn die Brüder werden persönlich vorstellig bei Josef. 

 

Mir ist hier etwas sehr wichtig, nämlich die Überlegung, ob Unbestimmtheit und Anerkennung von Ambivalenz nicht ggf. auch Brücken bauen kann? Ob Unbestimmtheit nicht eine Hilfe sein kann? Unbestimmtheit als Chance, als Chance zur Vergebung?

 

Im digitalen Zeitalter sind wir daran gewöhnt, dass die Welt ausschließlich aus 0 und 1 zu bestehen scheint. 

Ich oder Du, meine Meinung oder deine Meinung, schwarz oder weiß – dazwischen scheint es nichts zu geben. Und Recht hab natürlich immer ich. 

Wir wollen alles eindeutig haben. Aber damit auch verkürzt, schwarzweiß. Das führt in die Enge.

In aller Regel wird eine angebliche Eindeutigkeit und Bestimmtheit aber dem prallen Leben nicht gerecht. 

Das Leben ist ambivalent. Das ist großartig und nicht nur nicht zu vermeiden, sondern zu akzeptieren. 

 

Widersprüchlichkeiten auszuhalten, das ist eine große Gabe und macht unser Zusammenleben überhaupt erst möglich. Das wissen wir aus eigenem Erleben.

 

Ja, klare Positionen sind wichtig. 

Aber gerade deshalb müssen wir nicht nur, sondern wir dürfen andere Positionen ertragen, aushalten, anerkennen, von ihnen lernen. 

Ich rede zum Beispiel von der Diskussion um Gendersternchen oder von so manchem Identitätsdiskurs. Beides endet nicht selten in Rechthaberei, bei der niemand mehr in der Lage ist, von sich selbst abzusehen. Dabei wären hier eine gelassene Unbestimmtheit und Leben und Leben lassen lebensdienlicher. 

Es gäbe keine große Literatur ohne Uneindeutigkeiten, kein menschliches Zusammenleben ohne Andeutungen und Auslassungen. 

Schon Höflichkeit, die uns so im Zusammenleben hilft, ist unbestimmt, ja manchmal sogar unwahr.

Oder Corona – wie hältst Du es mit der Impfung? Das war einmal wichtig, aber die Zeit ist darüber hinweggegangen. Was wird nun aus den Verwerfungen in den Familien, jetzt, da das Thema nicht mehr am Tage ist? Muss das jetzt immer noch ausgetragen werden? Oder kann man vielleicht von sich absehen und sich gemeinsam an einen Tisch setzen und über etwas ganz anderes reden und gemeinsam essen und trinken, feiern und arbeiten? 

Ist es möglich, die Diskussion im Unbestimmten zu lassen, darüber hinwegzugehen, weil jetzt andere Themen am Tage sind? Ist es möglich, so miteinander ein besseres Weiterleben zu ermöglichen? Es einfach mal gut sein lassen, wo es möglich ist.

„Mach mal halblang“, Sie kennen es alle. Das kann guttun. Es muss nicht alles bis auf den letzten Grund geklärt werden.

 

2. Vom Vergeben

Zurück zu unserer Geschichte und zu meiner zweiten Entdeckung:

Die Brüder also bitten um Vergebung. Josef gewährt die Vergebung nicht, jedenfalls nicht durch explizite Vergebungsworte.

Die Brüder werfen sich nieder. Die gerechte Schlussfolgerung der Geschichte wäre, dass sie Josefs Sklaven werde, das sagen sie selbst – und es entspräche auch exakt den Träumen aus Josefs Jugend und den Folgen aus ihrem eigenen Handeln. 

 

Josef aber schenkt ihnen die Freiheit und sagt „Fürchtet euch nicht.“ 

Ist das eine Vergebung? Ist das ein Verzeihen?

Unser deutsches Wort „vergeben“ hat mit geben und nehmen zu tun – es findet ein Tausch statt. Deine Reue gegen mein Absehen von Rache. 

Vor Augen steht uns beim Geben eine horizontale Bewegung, auf Augenhöhe. Nicht selten gibt man sich beim Vergeben oder Entschuldigen auch die Hand. 

Das hebräische Wort für „vergeben“, das hier im Alten Testament verwendet wird, hat eher die Bedeutung von „aufheben“ – im doppelten Wortsinn. Etwas wird für beendet erklärt, aber auch „emporheben“, „aufrichten“. 

Und genau das tut Josef mit den Brüdern, die sich vor ihm niedergeworfen haben. 

Er richtet sie auf, er sagt: Fürchtet euch nicht und er redet freundlich mit ihnen. Treffen wir am Anfang der Geschichte einen jungen Josef von fast unglaublicher Überheblichkeit, so treffen wir hier einen weise gewordenen Josef von eigentlich unfassbarer Freundlichkeit. 

 

Ist das die Weisheit, die dem Leben dient? Erst Am-Leben-lassen, dann dazu noch In-Würde-leben-lassen? Ob die Brüder nach diesem „Aufrichten“ gut miteinander ausgekommen sind, ob sie sich im echten Sinne versöhnt haben oder nur eine friedliche Ko-Existenz pflegten, um weiter leben zu können, das erzählt die Geschichte nicht. 

Aber dass sie alle leben konnten, das ist eindeutig gesagt. Und das ist viel – nach dieser Vorgeschichte. Reicht das nicht? Muss das Opfer seine Täter lieben? 

Nein.

Hannah Arendt hat viel über das Böse, über Schuld und über Weiterleben angesichts der Vergangenheit geschrieben. Sie stellt das Verzeihen neben das Versprechen. Für sie gehört beides zusammen. Ich zitiere:

„Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit – dagegen, dass man Getanes nicht rückgängig machen kann, […]– liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten. Diese beiden Fähigkei¬ten gehören zusammen, insofern die eine sich auf die Vergangenheit bezieht […],  während die andere […] einen Wegweiser in die Zukunft aufrichtet, in der ohne die bindenden Versprechen, noch nicht einmal irgendeine Kontinuität menschlicher Bezie¬hungen möglich wäre, von Beständigkeit und Treue ganz zu schweigen.“ 

Also: Verzeihung für die Vergangenheit, Versprechen für die Zukunft.

 

Was Hannah Arendt hier beschreibt, ist wie die Bitte um Vergebung durch die Brüder und Josefs „Fürchtet euch nicht“ als Antwort. Josef bindet sich durch sein Versprechen, seine Brüder in Zukunft zu versorgen. Aber hat er das Verhalten seiner Brüder für die Vergangenheit verziehen? 

Davon findet sich jedenfalls im Text nicht wirklich ein Beweis.

 

Aber ein Versprechen, um ein Weiterleben zu ermöglichen. „…um zu tun, was jetzt am Tage ist: nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk“, wie es in unserem Text heißt. 

 

Und jetzt komme ich noch einmal auf die Unbestimmtheit zu sprechen. 

„Am Leben zu erhalten“, - das kann reichen. Und das kann nach einem großen Streit schon viel sein. 

Bei wie vielen Kriegen in der Welt kann am Ende höchstens ein „Vergeben“ stehen, ein pures „weiter leben“ – ohne Furcht? 

„Fürchtet Euch nicht!“

Die Menschen in der Ukraine wären froh, wenn das ihre Zukunft wäre: Ihr müsst Euch nicht mehr fürchten, vor Krieg und Unterdrückung.

Ich fände das schon großartig. 

Da muss nicht unbedingt noch eine umarmende Versöhnung dazu kommen. 

Erwarten wir also nicht zu viel von einer Vergebung. 

Je eindeutiger eine Versöhnung erwartet wird, umso eher kommt sie nicht. 

Ein „modus vivendi“ kann in der Politik ein Segen sein. 

 

3. Vom Herrschen 

Meine dritte Entdeckung:

Josef bleibt in allem der zweite Mann im Staat. 

Nicht ob, sondern wie Herrschaft und Brüderlichkeit, Ungleichheit und Gemeinschaft zusammenkommen; nicht ob, sondern wie legitime Autorität und Macht unter Geschwistern, in Völkern, vielleicht auch zwischen Völkern definiert und verantwortlich gestaltet werden kann, das wird hier verhandelt. 

Und der Maßstab ist: am Leben bleiben und Leben erhalten. Dem Leben dienen. Dem muss gutes Regieren dienen, „um zu tun, was jetzt am Tage ist: nämlich „am Leben zu erhalten ein großes Volk“. 

Das klingt wenig, aber es ist viel.

 

Gutes Regieren hat nicht den Anspruch, alle Menschen glücklich zu machen, zur Versöhnung zu bewegen nach dem Motto: „Alle Menschen werden Brüder und Schwestern“.

Nein Das kann Politik gar nicht. Vielleicht darf sie das nicht einmal.

Aber „am Leben erhalten“, das ist der Kern. Und das ist ziemlich viel:

 

  • Dem Ziel „am Leben zu erhalten“ folgt die Vorratswirtschaft Josefs für den Pharao. Es gibt nun einmal fette und magere Jahre. Weise ist, sich darauf vorzubereiten.
  • Diesem Ziel „am Leben zu erhalten“ folgt das Versprechen an die Brüder, sie und ihre Familien zu versorgen. Weise ist, dafür die wirtschaftliche und soziale Kraft zu haben – und zu erhalten.
  • Diesem Ziel „am Leben zu erhalten“ muss die Aufgabe folgen, die Schöpfung so zu bewahren, dass Menschen auch in Zukunft darauf im echten Sinne des Wortes leben können. Weise ist, dass zu Hause vorzumachen und dafür weltweit zu werben.
  • Diesem Ziel „am Leben zu erhalten“ muss die Aufgabe folgen, Krieg zu vermeiden, Frieden in Freiheit wiederherzustellen und zu sichern. Weise ist, dafür Vorsorge zu treffen – nach meiner Meinung auch mit notfalls militärischen Mitteln. Und ich weiß, dass das umstritten ist.

 

Also: „am Leben erhalten“ ist ziemlich viel für Politik.

 

4. Von Gott

Meine vierte Entdeckung handelt von Gott.

Josef sagt: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist: am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ 

Diesem Plan musste alles in dieser Erzählung folgen, – das ist Josefs Deutung – auch für das Unrecht und die Folgen. 

Gott hat es gut gemacht. Eine solche Schlussfolgerung kann nur der oder die Leidtragende selbst ziehen, ohne es je zu müssen. Das ist die Perspektive Josefs. Ganz subjektiv. Und er hat es ja auch nicht schlecht getroffen auf seinem Lebensweg.

Zugleich wissen wir, dass wir es mit einer durchkomponierten Erzählung zu tun haben, die natürlich die Hörerinnen und Leser im Blick hat. Die Erzählung will weise Lebenskunst vermitteln und den Horizont weiten. Sie bedient sich dazu der Worte Josefs: „Gott aber gedachte es gut zu machen.“ 

Soll heißen: Weil Gott es so will und weil kluge Lebensführung sich für das Leben auch der anderen entscheidet. 

In den Worten der Erzählung heißt das: „um zu tun, was jetzt am Tage ist: am Leben zu erhalten ein großes Volk“. 

Die Weisheitslehrer des Alten Testaments denken den weisen Menschen als gottesfürchtigen Menschen. Einen Menschen mit Ehrfurcht vor dem Leben und der Sehnsucht nach gelingendem Leben. Einen Künstler und eine Künstlerin in Sachen kluger Lebensführung. Pragmatisch, klug im Reden und Schweigen und offen für die andere Perspektive.

 

Diese Lebenserfahrung und diese Gotteserfahrung geben uns die Weisheitslehrer durch die Josefserzählung mit auf den Weg. 

 

Und in dieser Perspektive dürfen wir diese, Josephs Schlussfolgerung, zu unserer Perspektive machen. 

Gott gedachte es gut zu machen – als Zuspruch und Anspruch. Um zu tun, was jetzt am Tage ist.

Und das ist dann unsere Aufgabe. Das können wir nicht anderen überhelfen. Und Gott schon gar nicht.

 

VII. Schluss 

Liebe Schwestern und Brüder, 

Jeder und jede kann anders handeln als erwartet und das Lebensdienliche wählen und dafür eintreten, mit dem guten Ausgang rechnen, die Hoffnung festhalten, mit Gott rechnen. Da hat jeder und jede seine eigene Kreativität, seine Möglichkeiten, Spielräume und Grenzen. 

 

Dabei muss es nicht perfekt werden. Gut ist weniger als perfekt. Das reicht. Mehr müssen wir uns nicht zumuten. Perfekt gelingt auch selten. 

Und vor allem: Manches kann unbestimmt bleiben. Das entlastet.

Setzen wir die Ansprüche an weise Lebensführung, an das Gelingen, an die Vergebung nicht zu hoch. Das ist nicht nötig und das gelingt selten.

Klar ist aber: Es kann anders kommen und gut werden, weil ich mich dafür entscheide und danach handele. Das ist meine Chance, meine Verantwortung in dieser Welt.

Es kann anders kommen und gut werden, weil Gott mitmacht in der Geschichte, in unserer Geschichte. Mit ihm ist zu rechnen.

Diese Hoffnung ist uns als Christinnen und Christen geschenkt. Ich glaube an die Auferstehung, an die Möglichkeit vom guten Leben.

Weise Lebensführung dient dem Leben. Weise Lebensführung rechnet mit Gott. 

Dafür ist jetzt die Zeit, das ist „jetzt am Tage“.

Amen


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